Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs steht Deutschland vor einem historischen Neuanfang. Aus einer Phase revolutionärer Unruhen und relativer Instabilität geht 1919 die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden hervor – die Weimarer Republik. Damit findet die politische Entwicklung endlich Anschluss an eine Modernisierung, die in Wirtschaft und Gesellschaft schon längst begonnen hat. Auch im der Einzelhandel hatte sich die ungeheure Produktivität der Industrialisierung lange vorher schon gezeigt. Wie keine zweite Branche prägt der Handel das Bild der neuen Zeit: mit den neuen Betriebsformen wie dem Warenhaus entsteht eine bis dahin unbekannte, städtisch geprägte Konsumkultur, in der sich sowohl die immer größere Warenfülle ebenso spiegelt wie auch die nach wie vor großen sozialen Unterschiede. Das Kaufen von vorgefertigten Waren – für den täglichen Bedarf, Bekleidung oder die Wohnungseinrichtung – löst die vormals übliche häusliche Selbstversorgung nun endgültig ab, und zwar für alle Schichten. Der Einzelhandel erweist sich in dieser Phase als Treiber gesellschaftlicher Modernisierung.
Auf dem Sprung in die Moderne
Die erste Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels
Die erste Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels
lle Bestrebungen, diese heillose Zersplitterung zu überwinden, bleiben in Ansätzen stecken. Der 1888 gegründete Zentralverband kaufmännischer Verbände und Vereine Deutschlands kann zwar hannoversche, sächsische, oberschlesische und thüringische Verbände integrieren und ab 1907 als Deutscher Zentralverband für Handel und Gewerbe auch Interessenvertretungen unter anderem aus Bayern, Baden und Rheinland-Westfalen einbinden, doch es gelingt ihm nicht, alle Einzelhandelsverbände zu vereinen. Daran scheitert auch die Zentralvereinigung deutscher Vereine für Handel und Gewerbe, die immerhin 313 Zusammenschlüsse aus Schlesien, Ost- und Westpreußen sowie Mecklenburg und Vorpommern umfasst. Doch einig sind sich diese Verbände vor allem im politischen Kampf gegen die aufkommenden modernen Vertriebsformen im Handel: die Warenhäuser, Konsumvereine und Filialbetriebe.
Auch diese neuen Betriebsformen schließen sich in eigenen Vereinigungen zusammen. Auf Initiative des Warenhausunternehmers Oscar Tietz gründet sich 1903 der Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser (VDWK).
Im Verlauf des Ersten Weltkriegs kommt es zu erheblichen staatlichen Eingriffen in die Warendistribution. Unter Missachtung des Einzelhandels organisieren kommunale Kriegsausschüsse die Warenverteilung zugunsten der eigenen städtischen Läden.
Die Branche selbst scheitert mangels politischer Schlagkraft sogar daran, den Vertretern des Einzelhandels eine Position im Vorstand des Kriegsernährungsamtes zu verschaffen. Jeder Versuch einer Einigung wird mit der Gründung neuer Gegenverbände quittiert. Doch die politisch und gesellschaftlich unübersichtliche Lage nach Kriegsende erfordert auch vom Einzelhan-del neue Impulse.
Am 19. November 1918, zehn Tage nach Abdankung des Kaisers und mitten in den Tumulten der Novemberrevolution, lädt der Vorsitzende des Verbandes Berliner Spezialgeschäfte, Heinrich Grünfeld, insgesamt 32 telefonisch erreichbare Repräsentanten der in Berlin ansässigen Handelsverbände ein, um die Lage zu erörtern. Die Beratung entwickelt eine solche Dynamik, dass die Vertreter spontan eine Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels ins Leben rufen. Am 19. März 1919 wird die endgültige Satzung der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels e. V. Berlin (HdE) von 41 großen Einzelhandelsverbänden unter Einschluss des VDWK und des Verbandes Deutscher Lebensmittelfilialbetriebe angenommen: Das alte Schisma zwischen Kleinbetrieben und Mittelstand auf der einen und den Großbetriebsformen auf der anderen Seite ist überwunden. Erster Vorsitzender der HdE wird Heinrich Grünfeld.
In der Weimarer Republik kann sich die HdE als gemeinsame Stimme der Branche schnell etablieren. 1926 hat sie bereits 72 Mitglieder. Mit Beginn der 1930er-Jahre gehören ihr 80 Organisationen an, darunter fünf Reichsverbände, 46 Reichsfachverbände, 29 Landes-, Bezirks- oder Provinzialverbände sowie 44 öffentlich-rechtliche Berufsvertretungen des Handels.
Mit der Gründung der Hauptgemeinschaft zieht auch der Terminus „Einzelhandel“ in den deutschen Sprachgebrauch ein. Im August 1926 führt der HdE-Vorsitzende Grünfeld in Düsseldorf selbstbewusst aus: „Was ist Einzelhandel? Dieses Wort gehört dem deutschen Sprachschatz erst seit etwa eineinhalb Jahren überhaupt an und ist durch die Tätigkeit der Hauptgemeinschaft zum Gemeingut der deutschen Wirtschaftssprache geworden. Für uns ist Einzelhandel diejenige Form des Warenvertriebes, durch welche in beruflich-kaufmännischer Form Waren des Haushaltsbedarfs und des persönlichen Gebrauchs unmittelbar an die Verbraucher und Gebraucher abgesetzt werden.“
Die jährlichen nationalen Einzelhandelstagungen der Hauptgemeinschaft entwickeln sich zu viel beachteten Foren, in denen die Entwicklung des Handels, aber auch die Zusammenarbeit mit der Politik sowie den Interessen-vertretungen anderer Wirtschaftszweige im Mittelpunkt stehen. Neben ihrer Funktion als Lobbyverband bietet die HdE ihren Mitgliedern berufspraktische Unterstützung bei Organisation und Betrieb. So setzt sie sich schon 1925 für die Durchführung eines Betriebsvergleiches ein und unterstützt die Einrichtung der Forschungsstelle für den Handel 1929 in Berlin, die sich zu einem führenden Forschungszentrum der Handelswissenschaft in Europa entwickelt.